Der Blick über weite Felder, die Stille im Wald oder die Farben einer Sommerwiese, all das bringt der Seele Frieden. »Beim Gehen tun wir nichts, nichts anderes als gehen. Aber nichts anderes zu tun haben, als zu gehen, ermöglicht uns, das reine Gefühl für das Sein wieder zu finden, die schlichte Freude am Dasein, die unsere Kindheit ausmachte«, sagt der französische Philosoph und passionierte Wanderer Frédéric Gros in seinem Buch Unterwegs Eine kleine Philosophie des Gehens.
Beim Wandern zählt nur der gegenwärtige Moment
Beim Wandern zählt nur der Augenblick: Das Ziehen der Wolken am Himmel, das Farbenspiel der Landschaft, das Rauschen des kleinen Wasserfalls abseits des Pfades, die prickelnde Frische einer Frühlingsbrise oder die wärmenden Strahlen der Wintersonne. Es zählt nur der Augenblick, der gegenwärtige Moment.
Abstand gewinnen vom Alltag
»Die Ausdehnung der Zeit vertieft den Raum«, schreibt Gros. Ein Geheimnis des Wanderns ist die langsame Annäherung an eine Landschaft. So wird uns die Landschaft schrittweise vertraut — im wahrsten Sinn des Wortes.
Für mich ist das entschleunigende Slow-Wandern die begriffliche — und auch tatsächliche — Entsprechung dieser schrittweisen Annäherung an die Natur. »An der Zeit kleben, sodass die Sekunden einzeln fassbar werden«, so beschreibt es Gros. Für ihn ist das Gegenteil von Langsamkeit nicht Schnelligkeit, sondern Hetze.
Vergnügen, Freude und Glück
Beim Wandern mache ich eine wunderbare Erfahrung. Viele Dinge, bei denen man Freude und Vergnügen empfindet, verlieren bei der zweiten oder dritten Wiederholung an Intensität, Erfahrungen sind gemacht und es wird zu etwas Bekanntem. Die „Dosis“ muss gesteigert werden oder es muss etwas Neues her, etwas nicht Erwartbares und Vorherbestimmtes.
Gerade das erlebe ich beim Wandern, auch wenn ich eine Route zum fünften oder sogar zehnten Mal gehe: Die Freude am Wandern verspüre ich immer wieder neu. Und immer wieder erlebe ich Augenblicke zum ersten Mal.
Das Vergnügen, den mineralischen Geschmack das kühlen Wassers eines „Drees“ auf der Zunge zu spüren. Oder wenn eine eine bizarre Wolkenformation die bekannte Horizontlinie völlig neu skizziert. Oder das Glitzern des Rauhreifs, der die Zweige mit kleinen Diamanten behängt. Oder auch nur das Aufblitzen eines vom Tau benetzten Wasserhahns in der Morgensonne beim Verlassen der Unterkunft. Diese Kleinigkeiten sind es, die mir auf schon oft gegangenen Wegen immer wieder neue Glücksmomente bescheren und jede Wanderung zu einer „Premiere“ werden lassen.
Wandern ist eine Tätigkeit der Beine und ein Zustand der Seele
Oft empfinde ich auf meinen Touren auch eine andere Art von Freude, besser noch: Eine Art von Zufriedenheit. Wenn ich nach einem Aufstieg zurückblicke und doch ein wenig stolz auf das Geleistete bin. Ich schaue hinab ins Tal und … auf meinen Garmin. Denn diese Art der Freude oder Zufriedenheit birgt auch immer die Gefahr des Messens und Vergleichens. Wieviel Höhenmeter waren es? Und in welcher Zeit? Es kommen so die Zahlen ins Spiel. Wie weit, wie hoch, wie schnell. Und dann wird Wandern zum Wettbewerb.
Wandern ist für mich kein Sport, vor allem kein Leistungssport. Auch wenn uns das manche Tourismus-Marktingexperten das vermitteln wollen („Die 80km von Hintertupfing“). Oder auch die Outdoor-Industrie, die immer ausgefeiltere Hightech-Produkte auf den Markt wirft. Aber Wandern ist kein Sport, der hochprofessionelle Ausrüstung erfordert. Kein Wettbewerb, bei dem es Sieger und Verlierer gibt. Sport lebt von Ergebnissen: Wer ist Erster, wer Zweiter? Stellt sich beim Wandern diese Frage?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch ich gehe in hochwertigen Wanderschuhen und in Funktionskleidung auf meine Touren. Aber: »Wer zehn Kilometer wandern möchte, kann auch einfach in seinen Turn- oder Joggingschuhen losgehen«, sagte Manuel Andrack (der sicher schon einige Kilometer gewandert ist), als er den „Ausrüstungswahn“ beim Wandern beklagte.
Der deutsche Schriftsteller Josef Hofmiller hat in seinem Buch Wanderbilder und Pilgerfahrten an einer Stelle geschrieben:
Wandern ist eine Tätigkeit der Beine und ein Zustand der Seele …. Es gibt hunderterlei Arten zu wandern — und jede, die jeweils zu unserem Wesen passt, ist gut.
Ich habe meine Art zu wandern gefunden.
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